Zwischen Symbolpolitk und Realengagement – eine postkoloniale Umdeutung
Dieser Text erschien im Widerspruch 72 “Postkoloniale Verstrickungen der globalen Schweiz” (klicke auf das Blog-Titelbild für mehr Infos).
Mit einer gewissen Regelmässigkeit mündeten in den letzten Jahren öffentliche Debatten, die von einer emanzipatorischen, antirassistischen Kritik entfacht worden waren, in einer breiten Front der Empörung. So steigerte sich in diesem Sommer auch die Diskussion um die problematische Namensgebung einer Basler Fasnachtsclique zu einem regelrechten Shitstorm hinauf. Dieser begann als Reaktion auf eine antirassistische Kritik, richtete sich jedoch schliesslich gegen die „Ausuferung von politischer Korrektheit“ und für den Erhalt von identitätsstiftenden Traditionen. Ausgangspunkt dieser Diskussion war die Bewerbung des jährlichen „Negro-Fest“ der Fasnachtsclique „Negro-Rhygass“i: In der Werbung war das Logo der Clique abgebildet, eine karikierte Schwarze Person mit hervorstehenden Lippen, Bastrock, Ringen und einem Knochen im Haar. Einzelne empörten sich auf Sozialen Medien über das rassistische Emblem und den Namen der Clique, bald darauf nahmen lokale Zeitungen das Thema auf. Im Anschluss lancierten Einzelpersonen eine Petition, die eine Namensänderung der Clique und der Jahresveranstaltung forderteii.
Für das Basler Fasnachtskomitee war der Fall hingegen klar, sie verneinten eine rassistische Absicht und bezogen sich auf eine „althergebrachte Tradition“, weshalb auch kein Handlungsbedarf bestehe. Fasnachtsbegeisterte sahen in dieser „öffentlichen Demarche“ sogar die gesamte Basler Identität bedroht und fühlten sich gezwungen, sie mit geballter Kraft zu verteidigen: mit einem Solidaritätsmarsch, der hunderte Fasnachtsbegeisterte – aber auch rechtsextreme Kreise – mobilisieren konnte. Gegen den Marsch bildete sich eine Gegendemonstration und am 17. August 2018 standen sich dann beide Gruppen auf der Wettsteinbrücke gegenüber. Schliesslich versuchte die Zeitung Tageswoche, die das Thema über Tage medial bearbeitet hatte, mittels einer Podiumsdiskussion zu vermitteln. Eingeladen war auch der Historiker Georg Kreis, der bereits in einem früheren Kommentar zur Berner «Zunft zum Mohren» auf Journal B solche symbolpolitischen Interventionen unter dem Titel «Zwischen Symbolpolitik und Realengagement» kritisierte (Kreis 2014). In seinem Beitrag argumentiert Kreis, dass Symbolpolitik bloss Oberflächenkosmetik sei und von den realen Problemen des Rassismus ablenken würde.
Kreis’ Position lässt jedoch die Frage unbeantwortet, wie solche anscheinend „weichen“ Identitätsfragen plötzlich eine solche Mobilisierungs- und Sprengkraft entwickeln können – und das weit über das rechtskonservative Spektrum hinaus. Die symbolische „Tradition der Basler Fasnacht“ scheint für viele identitätsstiftend zu wirken und wird deshalb bei Kritik vehement verteidigt. In diesem Artikel versuche ich deshalb, vom Beispiel dieser Debatte ausgehend, die Bedeutung von „Tradition“ für die Konstruktion von Identität aufzuzeigen und zu diskutieren, welche machtpolitischen Realitäten und Praxen damit ausgeblendet werden. Damit soll die die Wichtigkeit kulturpolitischer Interventionen in öffentlichen Diskursen als Teil einer emanzipatorischen Strategie unterstrichen werden.
Urbane Paniken in kosmopolitischen Gesellschaften
Der deutsch-griechische Rassismusforscher Vassilis Tsianos (Tsianos 2013, 22f) beschreibt das Hochschaukeln von Problemen zur kollektiven Empörung sehr treffend als «urbane Panik». Genau dies geschah in Basel anhand des Disputs um die identitätsstiftende Fasnacht. Gleichzeitig ist aber für viele Menschen in der Schweiz die Auseinandersetzung mit neuen Identitäteniii und neuen gesellschaftlichen Realitäten wie Mehrfachzugehörigkeiten längst schon Alltag. Letztere strukturieren sich über eigene Migrationserfahrungen und/oder über familiäre Biografien, sowie über Liebes- oder Arbeitsbeziehungen. Ein weiteres strukturierendes Moment besteht in den vielfältigen Ausschlusserfahrungen, die Menschen aufgrund äusserlicher und/oder ihnen zugeschriebenen Merkmalen machen, also rassistischen Diskriminierungeniv (Espahangizi et al. 2016). Diese gehören für immer mehr Bewohnende der Schweiz nicht bloss zu einer individuell erlebten, sondern auch zu einer strukturell bedingten Alltagserfahrung, wie auch die neusten Studien des Bundes deutlich machen (Naguib, Tarek et al. 2017). Auffallend ist daher, um wieder zu unserem Beispiel zurück zu kehren, wie hartnäckig sich das dominante Narrativ der unschuldigen (Fasnachts-)Tradition gerade in postmigrantischenv Städten wie Basel hält, die sich wohl selbst als kosmopolitisch sehen und in welchen mehr als die Hälfte der Bewohnenden auch einen Bezug zu nicht-baslerischen Traditionen haben.
Was wir von den Demonstrierenden für den Namen der Fasnachtsclique lernen können, ist, dass Volkskultur einer der Kristallisationspunkte von kollektiver Identität und individueller Zugehörigkeit darstellt. Denn diese Populärkultur vermittelt zwischen dem Alltag der Menschen und der Gesellschaftsstruktur und bietet einen Bezugsrahmen jenseits politischer und ökonomischer Organisation. Doch so wie die Machtverhältnisse einer Gesellschaftsstruktur «politisch» sind, so sind es auch die vielen Routinen des Alltags, wie sie im Konsum, sowie in der Produktions- und Reproduktionsarbeit ausgebildet sind. Sie dienen der Normalisierung von Machtverhältnissen (Brand / Wissen 2017), indem sie die individuelle Subjektivität formen. Dieser Prozess wird entscheidend durch die Populärkultur vervollständigt. Mit Stuart Hall ausgedrückt, ist es nämlich die kulturelle Sphäre, in welcher die Menschen ihre Vorstellungs- und Symbolkraft entfalten, weil sie dort ihre Fantasien ausleben können (Loudis 2017). Wenn nun aber nur die Fantasien von einem Teil der Menschen in der Populärkultur abgebildet werden, werden andere Perspektiven und damit auch fundamentale gesellschaftliche Zusammenhänge zum Verschwinden gebracht und eine politisch konservative Weltsicht wird als Realität akzeptiert. So werden in westlich geprägten Gesellschaften globale Ungleichheit und Machtverhältnisse sowie deren historischen Kontexte im nationalen Bezugsrahmen kaum erfahrbar abgebildet, und wenn, dann nur einseitig als Störfaktoren und als Risiko für die nationale Sicherheit. Dies führt in der Bevölkerung zu einem Erklärungsnotstand für das Bild der Gegenwart. Diese Leerstelle wird gefüllt mit den Fantasien der kapitalistischen Dominanzkultur der Eliten, die sich auf diejenigen historischen Realitäten, sprich Teilrealitäten, abstützen, die ihnen dienlich sind, während historische Realitäten anderer Gruppen ausgeblendet werden. Dieser Vorgang zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte vom europäischen Mittelalter bis hin zur Moderne (Mbembe 2016).
Die Kontinuität der städtischen Elite
In der Basler Fasnachtstradition lassen sich bis heute noch die militärischen Charakteristiken der Cliquen erkennen, die jeweils im Marschschritt zu Trommeln und Pfeifen umherziehen. Dies verweist auf die mittelalterlichen Ursprünge dieser Tradition, die eng mit der Geschichte der Zünfte verbunden ist, als die Fasnachtsbräuche im Rahmen ihrer militärischen Musterungen stattfanden – denn das baselstädtische Wehrwesen war früher zünftisch organisiert (Rebmann 2017). Da die Zünfte im Zentrum des Wandels der städtischen Elite im Laufe der Jahrhunderte stehen, eignen sie sich auch, um ein Verständnis für Machtstrukturen zu entwickeln. Letztere zeigen sich z.B. in dem Umstand, dass sich Elemente der vordemokratischen Zunftverfassung noch bis 1875 hieltenvi – also noch fast ein Vierteljahrhundert nach dem Inkrafttreten der liberalen Bundesverfassung mit dem Grundsatz der Gleichheit aller Bürger. Heute stehen die Zünfte und Gesellschaften von Basel unter der Aufsicht der Bürgergemeinde, einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft, welche parallel zu den Organen des Stadtkantons existiert. Der Bürgergemeinde gehören alle Basler Ortsbürger*innen an, d.h. alle, die in Basel das Bürgerrecht haben. 2017 waren das gerade mal ca. 47 000 Personenvii, während die Einwohnergemeinde Ende 2017 insgesamt 176 000 Einwohner*innen zählte. Solche Gemeindestrukturen sind noch in einigen Kantonen in unterschiedlicher Ausprägung anzutreffen. Sie sind ein Erbe der spätmittelalterlichen Güter- und Nutzgemeinden, welche das Nutzungsrecht auf das Allgemeingut auf einen exklusiven Personenkreis, eben die Bürger, beschränkten (Holenstein et al. 2018). Zünfte, Gesellschaften, Bürgergemeinden und Korporationen sind Schweizer Paradebeispiele für die Kontinuität einer vordemokratischen und exklusiven Staatsordnung, die sich über die Zeit der modernen Staatsgründung hinweg gerettet hat. Sie wird auch heute, trotz dem liberalen und kosmopolitischen Selbstverständnis der grösseren Schweizer Städte, in lokalpatriotischer Tradition aufrechterhalten und verfügt weiterhin, wenn auch in unterschiedlicher Weise, über politische Macht und gesellschaftlichen Einfluss: so entscheidet beispielsweise in der Stadt Basel die Bürgergemeinde bis heute über Einbürgerungen.
Wenn wir verdeutlichen wollen, wie die Aufrechterhaltung von Privilegien mit Fragen der Identität verknüpft ist, müssen wir uns an den heute fehlenden Zusammenhängen, eben jenen „anderen“ Teilgeschichten, orientieren, die von den dominanten Geschichten unsichtbar gemacht wurden. Die wohl bekannteste Geschichte über den Erfolg der westlichen Welt ist diejenige der Aufklärung und des damit verbundenen Siegeszugs des Kapitalismus. Dabei handelt es sich aber nur um die beachtenswert kontinuierliche Geschichte der jeweiligen zeitgenössischen Eliten (Bühlmann et al. 2015). Auch das – heute «Daigg» genannte – Basler Patriziat hatte sich auf verschiedenste Weise an der europäischen Expansion beteiligt. Sie setzten dafür insbesondere ihr überschüssiges Kapital aus den Ländereien, Handelsbeziehungen und den Söldnern aus den eigenen Herrschaftsgebieten ein (Eberle / Schäppi 2007). Anfangs des 18. Jahrhunderts eröffneten zahlreiche Patrizierfamilien Handelshäuser in verschiedenen Hafenstädten in Frankreich, um Seidenbänder aus ihrer Basler Textilfabrikation abzusetzen. Mit den daraus gewonnenen Überschüssen begannen einzelne Basler Patrizier dann im späteren Verlaufe des Jahrhunderts, im transatlantischen Sklavenhandel zu spekulieren.viii Die beherrschende Stellung der Kaufleute und Bandfabrikanten in Basel blieb bis zum Einmarsch von Napoleons Truppen und dem damit verbundenen Umsturz der Helvetik 1798 erhalten. Im Anschluss daran wurde die Staatsordnung innerhalb weniger Jahrzehnte mehrmals umgestaltet.
Obwohl diese Umbruchzeit als Phase der Umwälzung der alten, elitären Machtstrukturen und der gesellschaftlichen Öffnung gelesen werden könnte, formierte sich vor dem Hintergrund der globalen wirtschaftlichen Transformationen des 19. Jahrhunderts genau in dieser Zeit eine neue wirtschaftspolitische Elite aus altem Adel und aufsteigendem Bürgertum, die mit ihren Investitionen in Kolonialunternehmen die Grundlage für die Industrialisierung von Basel schufen (Schär 2015; Purtschert et al. 2015). Dies gelang ihr nicht zuletzt dadurch, dass sie an kulturellen Formationen wie der feudalen ständischen Ordnung anknüpften, in der sich die sozialen Hierarchien durch Heiratspolitik und Wahlpraxen, wie z.B. der Kooptationix, gebildet und verstetigt hatten (Rieder 2008). Der patrizische Habitus und verwandtschaftliche Beziehungen bestimmten auch im neuen Bürgertum die soziale Position (Sarasin 1997) und damit, wer sich in die männlich-weisse-schweizerisch-bürgerliche Genealogie einschreiben konnte und wer nicht (dos Santos Pinto 2018). Bestärkt wurden diese identitätsstiftenden und -aufrechterhaltenden Systeme durch ein Überlegenheitsgefühl, das sich als Folge der politisch-ökonomischen Machtzunahme von Europa im Verlaufe des 19. Jahrhunderts herausbildete: die Abgrenzung des „Aufgeklärten“ vom „kolonialen Unterentwickelten“ war zentral für die Verknüpfung von einem scheinbar aufklärerischen Selbstverständnis mit konservativen Welt- und Gesellschaftsansichten und damit für die Herausbildung einer dominanten kollektiven Identität der städtischen Elite (Bhambra 2015).
Postmigrantische Anküpfungspunkte an die Fragmente einer postkolonialen Schweiz
Der städtischen Elite gelang es somit, ihre wirtschaftliche Macht durch die kolonialen Geschäfte zu vergrössern und ihre gesellschaftliche Macht aufrechtzuerhalten, indem sie parallel zu den staatlichen und demokratischen Institutionen kulturelle Strukturen der feudalen Zünfte weiterführten. Damit eröffnet sich ein anderer Zugang zur Debatte um die Fasnachtscliquen, der aufzeigt, dass eine öffentliche Auseinandersetzung mit der Geschichte des Kolonialismus und dessen Nachwirken in die Gegenwart auch anhand von symbolischen, identitätsstiftenden „Traditionen“ notwendig ist.
Hinter der Präsenz von Herrschaftssymbolen wie dem Emblem der Basler Fasnachtsclique oder des Wappens der Zunft zum „Mohren“ in Bern (Schär 2014) stecken reale Machtmechanismen. Ein Beispiel dafür ist der Artikel 37 in der Schweizerischen Bundesverfassung, in der besondere Bestimmungen für die Bürgerrechte von Bürgergemeinden und Korporationen festgehalten sind, obwohl das vordemokratische Prinzip der exklusiven Personengemeinde dem liberalen Ideal der Gleichheit aller Bürger*innen widerspricht. Zudem erfolgt der Zugang zum Schweizer Bürgerrecht noch immer über die Gemeinden und Kantone, ungeachtet der Tatsache, dass sich die Rechtsfolgen der Einbürgerung auf das Schweizer Staatsbürgerrecht beziehen und sich überwiegend auf bundesrechtlicher Ebene zeigen. Die Existenz von mehreren Bürgerrechten – Gemeinde, Kanton, Bund – sowie die Konzipierung der Einbürgerung als politischer Ermessensentscheid, gehen auf das Kooptationswahlverfahren der feudalen Nutzgemeinden zurück und haben bis heute weitreichende Konsequenzen für die Einbürgerung. Eine Folge davon ist beispielsweise, dass in vielen Gemeinden eine Einbürgerung nicht aufgrund objektiver und für alle Personen in der Schweiz geltenden Kriterien vorgenommen wird, sondern weltanschauliche, oft der „Tradition“ geschuldete Ansichten der zuständigen Personen den Ausschlag für eine Einbürgerung geben. Die Dreifachteilung des Schweizer Bürgerrechts wurde nie angetastet und wird im heutigen politischen Diskurs als „nationale Identität“ verteidigt – mit ähnlichen Argumenten wie bei der Fasnachtstradition. Dies führt zu einem anhaltend hohen Anteil Personen ohne Schweizer Pass unter der permanenten Wohnbevölkerung und zum Ausschluss von der politischen Partizipation eines grossen Teils der Bevölkerung. Die Einbettung der alten, ständischen Gesellschaftsordnung in die der Expansion des globalen Kapitalismus geschuldete neue Ordnung war denn auch ein Grund dafür, dass trotz der europäischen Aufklärung und der französischen Revolution, Frauen und nicht weisse Menschen, aber auch nicht Vermögende explizit ausgeschlossen blieben. Und entgegen der universalistischen Versprechungen der Aufklärung werden Strukturen der Ungleichheit auch heute noch durch Rassismus und Sexismus (und andere Ausschlussformen) legitimiert.
Der europäische Imperialismus war nicht nur ein ökonomisch-politisches Herrschaftssystem, sondern auch ein kulturelles. Der Selbstentwurf der Schweiz zur „modernen Nation“ geschah materiell durch die Aneignung von natürlichen Ressourcen aus der ganzen Welt und symbolisch-kulturell durch die Abgrenzung zu dem, in die Kolonien projizierten, „Vormodernen“ – und das war das «Aussen» (Rieder 2008). Dies spiegelt sich auch in den Masken und Verkleidungen der Fasnachtstradition, an denen sowohl traditionell-feudale wie auch kolonial-rassistische Motive eher die Regel als die Ausnahme darstellen (Mbundu 2018). Deren historischer Kontext ist somit sowohl das ideelle Vermächtnis der Feudalherrschaft, als auch dasjenige des aufklärerischen naturwissenschaftlichen Kolonialrassismus. Ob dieser Kontext heute noch bewusst oder nicht bewusst gelebt wird, spielt im Grunde keine Rolle. Ebensowenig, ob sich die Mitglieder der Fasnachtsclique nun selbst als Rassisten sehen oder nicht. Realpolitisch legitimieren solche Symbole und «Traditionen» aber die Aufrechterhaltung einer imperialen Lebensweise in der Schweiz und eines undemokratischen Nord-Süd-Verhältnisses.
Herrschaftssymbole können sich in verschiedensten Formen, zum Beispiel in sexistischer Werbung, stereotypisierten Karikaturen, aber auch in identitätsstiftenden Traditionen zeigen. Der kulturpolitische Ansatz erlaubt, widerständiges oder marginalisiertes Wissen mit emanzipatorischen Kämpfen zu verknüpfen. Dazu genügt eine einfache Frage: „Wer ist das Volk?“ Denn die Frage der Nicht-Zugehörigkeit knüpft direkt an den Lebensrealitäten der postmigrantischen Gesellschaft an und nicht an sogenannten „Traditionen“, die diese Realitäten fortwährend verleugnen. Sie lädt zu einem Perspektivenwechsel vom „Migrationsproblem“ zum Gerechtigkeitsproblem ein und zielt damit auf das bestehende demokratiepolitische Defizit (Jain / Randeria 2014). Die Beantwortung der Frage nach der Nicht-Zugehörigkeit ist eng verbunden mit der gesellschaftlichen Anerkennung einer geteilten Geschichte. Diese Anerkennung muss aber mit dem Zugang zu und der Teilhabe an demokratischen Prozessen und an gesellschaftlichen Ressourcen wie Wohlstand, Bildungschancen, Arbeit, Mobilität, Diskriminierungsfreiheit, etc. verbunden sein. Um dies zu bewerkstelligen, braucht es ein anderes Wissen über die Schweizer Institutionen und die sogenannten Traditionen, ein Wissen, das in den transnationalen und marginalisierten Lebenswelten von Migrant*innen verankert ist, aber sich auch in den Archiven der offiziellen Schweiz selbst auffinden lässt.
i Bla.Sh – Black She: Öffentliche Stellungnahme. www.facebook.com/NetzwerkBlackShe/posts/2041647169499203?__xts__%5B0%5D=68.ARDA1f7QMeOE4ZrppgvKqsYYQ2GvFHWzPusi2dzPwTXtIr8-UjTmDaTN7lo9uFS8PpUh0JlLAHWwU0D1WWjkFIsuLlRsW01Sb9fE48ARxt5pzH9Cbc8fY6LvHRaled7CuRaaFLKLGBHRquW4cjc0cD21srqXpFoLELN0iHzc7ASWrO08RlwgbQ&__tn__=K-R (Abfrage 02.10.2018)
ii Die Petition „Die Änderung der Clique „Negro Rhygass“ und des „Negro Fescht“!“, richtet sich an die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus EKR https://www.openpetition.eu/ch/petition/online/die-aufhebung-aufloesung-der-clique-negro-rhygass-und-des-negro-fescht (Abfrage 03.10.2018)
iii In Anlehnung an: Hall, Stuart, 1988: New Ethnicities. In Black Film, British Cinema.
iv Rassismus wird in der Öffentlichkeit meist als individuelle „Einstellung“ und Ausnahmeerscheinung von „Extremisten“ gedeutet. Rassismus ist aber ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, er organisiert die Gesellschaft entlang biologischer, ethnischer oder kultureller Gruppenzuschreibungen und reguliert den Zugang zu Rechten, Ressourcen und Anerkennung. Die Fortschreibung rassistischer Verhältnisse im Kolonialismus und in der Sklaverei führen beispielsweise dazu, dass Schwarze Menschen afrikanischer Herkunft bis heute spezifischen Formen rassistischer Stereotype und strukturellen Diskriminierungen ausgesetzt sind.
v Mit postmigrantisch ist hier eine Gesellschaft gemeint, die bereits durchgehend durch Migration strukturiert ist. Dabei ist das „post“ nicht als temporaler Präfix zu verstehen, sondern unterstreicht die Wirkungsmacht von individueller Migrationserfahrung auf eine Gesellschaft. Gleichzeitig deutet die Terminologie aber auch an, dass die institutionellen Teilhabemöglichkeiten nicht mit der Gesellschaftsstruktur übereinstimmen.
vi Die Mitglieder des Grossen Rats wurden nicht nach dem Prinzip der Volkssouveränität gewählt, sondern in Wahlzünften und Quartierversammlungen von einem sehr engen Kreis von Aktivbürgern.
vii Vgl. Telebasel, https://telebasel.ch/2017/05/07/was-tut-eigentlich-die-buergergemeinde/ (Abfrage 03.10.2018)
viii Vgl: cooperaxion.org: Liste der im Sklavenhandel involvierten Schweizer (Filter Basel Stadt). https://cooperaxion.ch/index.php?tablename=sklavenhandel&function=search&execute_search=1&search_from_filter=1 (Abfrage 04.10.2018)
ix Bei der Kooptation werden neue Mitglieder für eine Körperschaft durch die dieser Körperschaft bereits angehörenden Mitglieder aufgenommen oder gewählt.
Literaturverzeichnis
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