Eine Allianz für ein solidarisches Wir
Replik zum Beitrag Racial Profiling im Kontext von postkolonialen Herrschaftsverhältnissen von Rahel Locher und Marc Oestreicher.
von Halua Pinto de Magalhães / Andrea Filippi /Tarek Naguibii
Struktureller Rassismus ist Bestandteil aller moderner westlichen Demokratien. Diese Form von staatlich legitimiertem Rassismus hat in den letzten 30 Jahren in Folge der sicherheitspolitischen Aufrüstung eine Normalisierung rassifizierter Sicherheitspolitiken befördert, insbesondere durch das europäische Grenzregime, seine spezifische Funktion in Bezug auf die Disziplinierung von Minoritäten-Gruppen und durch die Bewirtschaftung von Bedrohungsszenarien . In Prozessen der Fremdmachung (othering) wird dabei entlang rassifizierter, vergeschlechtlichter und klassistischer Differenzkonstruktionen ein «Wir» und ein «die Anderen» erzeugt. Rassistische Polizeikontrollen bedienen sich einer ganzen Palette kolonialrassistischer und postkolonialer Stereotype, wie die Allianz gegen Racial Profiling in diversen Stellungnahmen (2016, 2017) sowie im Bericht an den UNO-Menschenrechtsausschuss vom 17. Mai 2017 festhält.
Ausgrenzende und disziplinierende polizeiliche Praxen sind aber keineswegs neu. Sie haben in der Schweiz Vorläufer: Die gruppenbezogenen Sondererfassungen von Rom*nja, Manouches, Jenischen und Sint*ezza (Herrnkind 2014; Lucassen 1996), die Kontrolle der «Vaganten», die als nichtsesshafte «Landstreicher» bereits im Mittelalter mit Zwangsarbeit – typischerweise auf Galeeren – bestraft wurden (Castel 2008) sowie die Sondergesetzgebung gegenüber den «Heimatlosen» in der Schweiz. Letztere wurden mittels eines institutionellen «Apparat[s] von rassialisierter Identifikation und Bewegungskontrolle» (Jain 2019a: 59; vgl. auch Mattli 2019) dazu gedrängt, ihre fahrende Lebensweise aufzugeben.
Solche historischen Verflechtungen sind ebenfalls der Ausgangspunkt des Artikels «Racial Profiling im Kontext von postkolonialen Herrschaftsverhältnissen» von Rahel Locher und Marc Oestreicher (2018) in der Ausgabe des Widerspruch, Heft 72. Aus einer herrschaftskritischen Perspektive führen die Autor*innen darin einige Aspekte von Racial Profiling aus und nehmen zudem eine kritische Beurteilung der Vorgehensweise der Allianz gegen Racial Profiling vor. Diese Kritik möchten wir zum Anlass nehmen, die politische Arbeit der Allianz hier kurz zu umreissen und einige Hintergründe unserer Strategien zu erläutern.
Die Allianz gegen Racial Profiling ist aus der Unterstützungsarbeit anlässlich des Gerichtsprozess gegen Mohamed Wa Baile1 hervorgegangen und als Netzwerk von Aktivist*innen, Kulturschaffenden und Wissenschaftler*innen gegründet worden. Das wichtigste Ziel der Allianz ist es, eine Plattform zu bieten, um mit unterschiedlichsten Aktionen und Kampagnen gemeinsam gegen rassistische Polizeipraktiken anzukämpfen. Die Strategien und Interventionsformen, die die Allianz dabei wählt, umfassen u. a. Studien an der Schnittstelle von Aktivismus und Wissenschaft (wie die Studie der Kollaborativen Forschungsgruppe 2019), inszenierte öffentliche Tribunale, Medienarbeit, Alternativberichte in den UNO-Menschenrechtsgremien, Prozessbeobachtungen sowie strategische Prozessführung, um nur einzelne zu nennen.
Locher und Oestreicher weisen in ihrem Artikel darauf hin, dass die Konsequenzen einer Polizeikontrolle für Personen ohne gesicherten rechtlichen Aufenthaltsstatus andere sind als für Menschen mit Schweizer Pass oder Aufenthaltsrecht, und dass nur Personen in einer privilegierten Position in der Lage sind, sich mittels strategischer Verfahren wehren zu können. Wir widersprechen diesen Ausführungen nicht, sondern sehen es als ein rechtspolitisch bedingtes Problem der strategischen Prozessführung, dass sich hierfür die prozessführende Person notwendigerweise in einer relativ privilegierten Position befinden muss im Vergleich zu anderen marginalisierten Menschen. Daraus sollte aber keinesfalls das Missverständnis resultieren, dass sich dieser Kampf auf privilegiertere Positionen beschränken sollte. Im Gegenteil, der Allianz war und ist es immer ein Anliegen, unterschiedliche Erfahrungen verschiedener Betroffenen-Gruppen einzubeziehen und die Komplexität von Racial Profiling aufzuzeigen. Die Allianz geht dabei davon aus, dass die Kämpfe gegen Rassismus auf verschiedenen Ebenen zu führen sind, wobei die Kämpfe sich gegenseitig ergänzen und nicht beabsichtigen, andere Anliegen unsichtbar zu machen. Die verschiedenen Erfahrungen von sehr unterschiedlichen Personengruppen, die regelmässig Racial Profiling erleben müssen, werden seit circa zwei Jahren auf der Allianz-Website dokumentiert und können aktuell in der schon erwähnten Studie der Forschungsgruppe eingesehen werden. Zudem waren auf Veranstaltungen der Allianz immer auch Personen präsent, die gerade nicht über einen Schweizer Pass oder geregelten Aufenthaltsstatus verfügen. So schilderte beispielsweise im öffentlich inszenierten Tribunal in der Grabenhalle St. Gallen 2016 eine illegalisierte Person in einem Testimonial ihre Erfahrungen mit beschämenden und würdeverletzenden Polizeikontrollen. Dieses konnte vom Polizeikommandanten der Stadt St. Gallen und dem Publikum – jedoch geschützt hinter dem Vorhang – gehört werden. Zudem kritisierte die Allianz im oben bereits aufgeführten Bericht an den UNO-Menschenrechtsausschuss die Untauglichkeit des Rechts, prekarisierte und illegalisierte Menschen vor rassistischen Polizeikontrollen zu schützen.
Zu Recht haben Locher und Oestreicher auf die Diversität der Erfahrungen insbesondere im Kontext des Aufenthaltstitels oder der Verfügbarkeit über materielle Ressourcen hingewiesen. Unsere Beobachtung ist aber darüber hinaus, dass unabhängig vom migrationsrechtlichen und sozialen Status und trotz unterschiedlicher Konsequenzen die rassistische Polizeikontrolle jeweils das strukturierende Element ist. Wenn nun die Analyse der Funktionsweise von Racial Profiling sich nur auf Personen mit besonders prekärem Status konzentriert, blendet sie folglich fundamentale Zusammenhänge rassistischer Machtstrukturen aus. Durch die Brille einer solcherart verengten Perspektive können die Verfahren von Mohamed Wa Baile sowie Wilson A. als Verteidigung partikulärer Interessen missverstanden werden. Die Allianz gegen Racial Profiling nutzt sie über die individuelle Unterstützungsarbeit hinaus aber gerade, um Racial Profiling als Problem eines systemischen Rassismus sichtbarer zu machen. . So kritisieren Locher und Oestreicher zumindest die Medienberichterstattung zur Kampagne der Allianz gegen Racial Profiling, da in ihr zwischen «guten» und «schlechten» Betroffenen unterschieden würde, «wobei erstere sich legal in der Schweiz aufhalten, integriert sind und einen guten Job haben – und deswegen zu Unrecht kontrolliert würden» (S. 99). Damit würden implizit die Kontrollen als gerechtfertigt dargestellt werden, wenn es sich beispielsweise um Asylsuchende oder illegalisierte Menschen handelt. Es war allerdings nicht die Allianz, sondern die selektive mediale Berichterstattung, die ein solches Bild entstehen liess. Die Allianz hat, wie oben erwähnt, immer wieder und in diversen Stellungnahmen und Initiativen versucht, die besondere Prekarität zu verdeutlichen, die rassistische Polizeikontrollen für Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus bedeuten. Jedoch sollten wir uns in diesem Zusammenhang fragen, ob wir mit unserer Pressearbeit eine solche Darstellung mit ermöglichten, und wie wir erreichen können, dass in Zukunft differenzierter berichtet wird.
Die Allianz gegen Racial Profiling hat sich dafür entschieden, eine strategische Koalition rund um den Kampf gegen Rassismus insbesondere in seinen institutionellen und strukturellen Formen zu bilden. Zentrales Element dieses Kampfes ist die Unterstützung eines Gegendiskurses, das talking back (bell hooks 1989), welches wir mit unserer politischen Arbeit, der strategischen Prozessführung, der kollaborativen Forschung und anderen Aktionen zu gestalten versuchen. Wenn wir diese Aktionsformen wählen, heisst das nicht, dass es die einzigen, oder gar die richtigen wären. Die Kritik von Locher und Oestreicher nehmen wir ernst und nehmen wir als Anlass dazu, das Wirken unseres Aktivismus kritisch zu hinterfragen. Dabei halten wir aber daran fest, dass es Sinn macht, Kämpfe auf verschiedenen Ebenen zu führen, um gemeinsam vorwärts zu kommen. Wir, auch innerhalb der Allianz, sind unterschiedlich von Diskriminierungen betroffen und profitieren unterschiedlich von Privilegien. Trotz unserer Differenzen erachten wir es als wichtig, verschiedene Anliegen nicht zu hierarchisieren und gegeneinander auszuspielen. Denn solidarische Kämpfe, die sich zwischen Herrschaftskritik und konkreten Forderungen bewegen, haben das Potenzial, Räume für andere Kämpfe und Anliegen aus schwierigeren Positionen heraus zu eröffnen.
Dieser Text erschien im Widerspruch 73 “Angst. Wut. Mut.”
1 Mohamed Wa Baile weigerte sich bei rassistischen Kontrollen seinen Ausweis zu zeigen und damit verbundene Bussen zu bezahlen, weswegen es zu einem Strafverfahren kam.
i Die Autor*innen sind Mitglieder der Allianz gegen Racial Profiling,
Literatur
Allianz gegen Racial Profiling, 2017: Alternative Report on Racial Profiling practices of the Swiss Police and Border Guard authorities. http://www.stop-racial-profiling.ch/wp-content/uploads/2016/10/alternative_report_iccpr_switzerland_2017.pdf (Abfrage: 21.6.2019).
Allianz gegen Racial Profiling, 2016: Stellungnahme. http://www.stop-racial-profiling.ch/wp-content/uploads/2016/11/stellungnahme_d.pdf (Abfrage: 21.6.2019).
Castel, Robert, 2008: Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz.
Herrnkind, Martin, 2014: «Filzen Sie die üblichen Verdächtigen!» oder: Racial Profiling in Deutschland. In: Polizei & Wissenschaft, 3, S. 35–58
hooks, bell, 1989: Talking Back: Thinking Feminist, Thinking Black. Boston
Jain, Rohit, 2019: Von der «Zigeunerkartei» zu den «Schweizermachern» bis Racial Profiling. Ein Essay über einen helvetischen Staatsrassismus. In: Wa Baile, Mohamed / Dankwa, Serena O. / Naguib, Tarek / Purtschert, Patricia / Schilliger, Sarah (Hg.), 2019: Racial Profiling. Struktureller Rassismus und antirassistischer Widerstand. Bielefeld, S. 43–66
Kollaborative Forschungsgruppe Racial Profiling, 2019: Racial Profiling. Erfahrung, Wirkung, Widerstand. Rosa-Luxemburg-Stiftung. Berlin, www.rosalux.de/publikation/id/40493 (Abfrage: 21.6.2019).
Locher, Rahel / Oestreicher, Marc, 2018: Racial Profiling im Kontext von postkolonialen Herrschaftsverhältnissen. In: Widerspruch, Heft 72, S. 95-102
Lucassen, Leo, 1996: Zigeuner. Geschichte eines politischen Ordnungsbegriffes in Deutschland 1700–1945, Köln.
Wa Baile, Mohamed / Dankwa, Serena O. / Naguib, Tarek / Purtschert, Patricia / Schilliger, Sarah (Hg.), 2019: Racial Profiling. Struktureller Rassismus und antirassistischer Widerstand. Bielefeld, https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-4145-5/racial-profiling (Abfrage: 21.6.2019).